Kunst als Ortskunde

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von Wolfgang Ullrich

Politiker, Manager, Großbürger haben es leicht: Wenn sie sich standesgemäß darstellen wollen, lassen sie sich zusammen mit einem Kunstwerk fotografieren. Sie wissen, daß es immer eindrucksvoll – nach Bildung, Autorität, Neugier, Wohlstand, Avanciertheit – aussieht, wenn sie vor einem abstrakten Gemälde oder einer großen Skulptur stehen. Was aber machen Künstler, um ein repräsentatives Bild von sich abzugeben? Natürlich können auch sie die Kunst als Accessoire wählen, doch statt sich damit als Connaisseure oder Avantgarde des Geschmacks zu profilieren, verraten sie dann nur ein bißchen Werkstolz. Das ist vielleicht ganz nett, aber nicht besonders spannend. Hier sind also andere Lösungen gefragt.

Valentina Seidel lotet in ihrem im Jahr 2000 begonnenen Projekt "Exchange" aus, welche Ikonographien sich Künstlern in der fotografischen Repräsentation bieten. Dabei erinnert ihr Vorgehen an ein Experiment von Bettina Rheims, die für ihre in den frühen 1990er Jahren entstandene Serie "Chambre Close" Frauen ansprach und in Hotelzimmer einlud, wo sie sich dann ganz nach ihren eigenen Vorstellungen inszenieren sollten. Während manche verschüchtert oder kokett mit der leicht verfänglichen Situation umgingen, präsentierten sich andere wie Vamps, als 'femme fatale' oder in betont derben Posen. Die Fotografin war also nicht die Regisseurin; sie war Initiatorin und eröffnete den Spielraum, in dem sich die Frauen darstellen konnten. Ebenso interessiert sich Valentina Seidel – worauf der Titel ihres Projekts ja bereits verweist – für ein Zusammenspiel, einen individuellen Austausch mit den Personen, die sie fotografiert: Sie bestimmt nicht, wo und wie sie aufgenommen werden, sondern gibt ihnen Gelegenheit und Inspiration, sich in einem ihnen entsprechenden Ambiente zu zeigen. Selbst bei der Auswahl des schließlich veröffentlichten Fotos dürfen die Künstler – auch einige Designer, Galeristen und Kunstvermittler gehören zu Seidels Sujets – mitwirken; sie sind also in alle Phasen des Prozesses einbezogen.

Da die Künstler selbst den Ort suchen, an dem sie fotografiert werden wollen, bekommt jedes Bild auch einen Werkcharakter. Immerhin ist es in der Gegenwart weniger die geniale Hand als die hervorragende Spürnase, die als besonderes Kennzeichen des Künstlers gilt. In einer Zeit, in der sich viele Künstler nicht mehr darüber definieren, neue Bilder zu machen und originelle Formen zu entwerfen, sondern vielmehr mit gefundenem Material zu arbeiten, ja aus einem Pool an Vorhandenem zu schöpfen, erwartet man von ihnen auch, daß sie einen überraschenden Platz entdecken und sich als besonders ortskundig erweisen, wenn es darum geht, ein treffendes Porträt von ihnen zu erstellen. Ihr Faible für das Ungewöhnliche, das Ausgefallene, das sonst Übersehene sollte im Foto – so die Hoffnung – zum Ausdruck kommen, ihr jeweiliges Werkklima sich auf ihm idealerweise nahtlos fortsetzen.

Dieser Anspruch kann natürlich auch zur Belastung werden. Bei ein paar Fotos ahnt man, daß viel Überlegung und manches Arrangement stattfand, bevor die Fotografin auf den Auslöser drücken durfte. Und als Betrachter mag man sich dann denken: Typisch Künstler! Muß sich krampfhaft als Außenseiter oder Rätselfigur in Szene setzen. – Viel häufiger jedoch sind Fotos entstanden, auf denen sich zwischen Person und Ambiente eine starke Atmosphäre aufbaut: denen es gelingt, das Unverwechselbare des Porträtierten und seiner Profession anhand einer markanten Konstellation zu zeigen. Wenn Mischa Kuball und Reinhard Spieler abgekämpft in einer Squashhalle stehen, malt man sich aus, welcher Zweikampf gerade zwischen ihnen stattgefunden haben mag. Und man begreift das Foto als Metapher für eine exemplarische Auseinandersetzung zwischen einem Künstler und einem Kurator – als Dokument dafür, daß beide bereit sein müssen, sich für ihre Arbeit zu verausgaben – daß sie immer auch in einem Wettstreit stehen, aber ebenso aufeinander angewiesen sind, ja alleine nichts ausrichten könnten.

Wird hier wohl erstmals eine eigene – und sehr starke – Ikonographie für ein oft diskutiertes Phänomen des zeitgenössischen Kunstbetriebs entwickelt, fallen auf anderen Fotos Anspielungen auf die Kunstgeschichte auf. So stellte der Bildhauer Robert Bridgewater zusammen mit seiner Freundin Kate Mc Caughey Jan van Eycks berühmte Arnolfini-Hochzeit nach: Das Paar tut so, als richte es sich gerade eine frisch renovierte Wohnung ein – und wie zufällig ergeben all die Dinge ein Pendant zur bürgerlichen Lebenswelt des frühen 15. Jahrhunderts. Das Foto wird damit ein Bekenntnis zu einer langen Tradition, und statt in avantgardistischer Manier totale Differenz zu reklamieren, legt der Künstler Wert darauf, als jemand wahrgenommen zu werden, der im Wissen um historische Kontinuitäten arbeitet.

Auf dem Großteil der Fotos sieht man die Künstler jedoch – das ist auffällig – an Plätzen, die als Zwischen- und Transiträume, zum Teil sogar als Un-Orte fungieren: auf einem Bahnsteig, im Vorraum einer Bankfiliale, unter einer Brücke, auf einer Baustelle, vor einer Müllhalde, auf einem Hausdach. Das Reizvolle dieser Orte besteht darin, daß sie, obwohl ziemlich verbreitet, dennoch leicht befremdlich wirken und nicht als Teil des Alltagslebens empfunden werden. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um mehr oder weniger undefinierte Flächen, ja um Möglichkeitsräume, um Orte des Pausierens oder Wartens – eines nicht genau festgelegten Aufenthalts: Wer hier ist, braucht sich nicht schon mit jeder Bewegung verplant zu fühlen, sondern darf eine Offenheit, vielleicht sogar eine Widersprüchlichkeit genießen. Derart undefinierte Räume bieten also die Chance zu Experiment und Reflexion. Manchmal weisen sie auch über die Gegenwart hinaus, zurück in eine durch Spuren und Reste präsente Vergangenheit, voraus in eine Zukunft, in der die Leere einmal gefüllt sein, aus dem Übergängigen etwas Bleibendes werden könnte.

In einem Roman von Peter Handke gibt es die Figur eines Architekten, der aufgehört hat, selbst etwas zu bauen, weil er von dem beeindruckt ist, was er vorfindet. Besonders begeistern ihn aber undefinierte Räume, die er "Leerbauten" nennt. Sein Hauptprojekt besteht darin, einen Fotoband mit dem Titel "Niemandslandstreifen in Japan" vorzubereiten; dafür plant er eine Sammlung von Fotos, wo sich "hier und da zwischen den nahezu lückenlos bebauten japanischen Parzellen etwas terrain-vague-Ähnliches zeigte" (1).

Valentina Seidels Projekt bietet eine Variante eines solchen Fotobands. Bei ihr ist es kein Architekt, sondern sind es die Künstler, die die 'Niemandslandstreifen' aufspüren – und die sich im 'terrain vague' fotografieren lassen, so als wollten sie die von ihnen entdeckten Orte signieren. Daß sie sich gerade damit identifizieren, ist auch nicht verwunderlich. Immerhin leisten undefinierte Räume genau das, was von Kunst erwartet wird: Sie bieten ein Remedium gegen Reduktionismen, und indem sie nicht festlegen, besitzen sie emanzipatorische und therapeutische Kräfte. Sie sind durch jene 'Zweckmäßigkeit ohne Zweck' ausgezeichnet, die seit Kant als Merkmal der Kunst gilt. Hier ist 'freies Spiel' möglich, hier darf sich Autonomie entwickeln, hier ist die Macht des Faktischen transzendiert.

So sind Valentina Seidels Fotos neben allem Individuellen, das die jeweiligen Künstler und anderen Akteure des Kunstbetriebs auf ihnen offenbaren, tatsächlich repräsentativ – standesgemäß – für das Metier, dem die Fotografierten angehören. Die Wahlverwandtschaft zwischen den Personen und den von ihnen gewählten Orten zeugt von einem besonderen Sinn für das Vieldeutige und Offene. Als Betrachter darf man daher spekulieren, was gerade passiert – und was im nächsten Moment passieren könnte, ja welchen Sinn eine Szenerie wohl besitzt. Daher werden die Fotos oft zu ähnlichen Rätselbildern wie sonst Werke der Kunst. Sie machen spürbar und sichtbar, was das Eigentümliche nicht nur der Künstler, sondern der Kunst ist. Mit ihnen bekommt die Kunst selbst eine Ikonographie. 

(1)  Peter Handke: Mein Jahr in der Niemandsbucht, Frankfurt/Main 1994, S. 586f.